3. Juni 2020 | Miriam Yeo | 0 Kommentare

Angst vor dem Verpassen und Kiasu

In Singapur, wo ich aufgewachsen bin, gibt es ein Wort, das einen Aspekt unserer nationalen Psyche sehr but beschreiben – kiasu. Das Wort bedeutet buchstäblich übersetzt „Angst vor Verlust“ und beschreibt inzwischen die Angst, etwas zu verpassen. Kiasu-Verhalten ist überall – die Menschen schließen sich den längsten Warteschlangen vor Essenständen an, weil sie nicht das leckerste Essen verpassen wollen, sie melden ihre Kinder für alle möglichen Extra-Kurse an und kaufen alles Toilettenpapier auf, das sie in Corona-Zeiten ergattern können.

Kiasu zu sein bedeutet, in einer tiefen Unsicherheit zu leben, ein Zustand, der nicht nur für Singapur typisch ist. Im Angesicht von Ungewissheit besteht unsere natürliche Reaktion darin, Dinge festzuhalten, die uns das Gefühl von Sicherheit und Erfolg geben. Anstatt zu vertrauen, dass das, was wir haben, ausreicht, halten wir es für notwendig, mehr zu nehmen und mehr zu tun. Wir sehen dies schon in der Schöpfungsgeschichte, wo ein Mann und eine Frau die Früchte eines Baumes betrachten, vor dem sie gewarnt wurden. Sie nehmen davon, ohne zu vertrauen, dass das, was sie bereits hatten, genug war. Sie werden von einer herzzerreißenden Lüge getäuscht: dass Gott uns nicht alles gegeben hat, was wir brauchen, damit es uns gut geht.

Diese herzzerreißende Lüge ist der tödliche Rhythmus unter unserer Zerbrochenheit. Wir nehmen mehr von der Erde, als sie geben kann und beuten aus sie unter dem Vorwand aus, dass wenn wir es nicht täten, unsere Volkswirtschaften untergehen würden. Sie taucht auch in den kleinen Dingen auf. Ich erinnere mich an einen Urlaub, für den ich mehrere selbstgemachte Snacks eingepackt habe, aus Sorge, dass es vor Ort nicht genügend Essen geben würde. Ein paar Tage später öffnete ich meine Dosen und stellte fest, dass die Snacks schlecht geworden waren und weggeworfen werden mussten. Ein, wie es scheint, kleiner Fehler, aber wenn man bedenkt, dass fast eine Milliarde hungriger Menschen von weniger als einem Viertel der von den USA, Großbritannien und Europa verschwendeten Lebensmitteln ernährt werden könnten [*], haben diese kleinen Fehler eine katastrophale Bedeutung.

Jesus gab uns eine ganz andere Perspektive und erinnerte uns die Sicherheit, die wir in unserem großzügigen Gott haben. Als er an einem Berghang saß, sagte er, nach einem längeren Fußmarsch und ohne zu wissen, wo er seine nächste Mahlzeit bekommen würde, zu den Menschen um sich herum: „Macht euch keine Sorgen um euer Leben, ob ihr etwas zu essen habt; und um euren Leib, ob ihr etwas anzuziehen habt! Das Leben ist mehr als Essen und Trinken, und der Leib ist mehr als die Kleidung! Sehr euch die Raben an! Sie säen nicht und ernten nicht, sie haben weder Scheune noch Vorratskammer. Aber Gott sorgt für sie. Und ihr seid ihm doch viel mehr wert als die Vögel!“ (Lukas 12:22-24) Er hätte ebenso gut sagen können: „seid nicht kiasu“ – wir brauchen nicht nach persönlichem Komfort und Kontrolle zu streben, denn ein liebevoller, kümmernder Gott hat die Kontrolle.

Wenn ich kiasu denke, denke ich an geballte Hände, die aus Angst an etwas festhalten. Wenn ich an einen großzügigen Gott denke, öffnen sich diese Hände und ich kann sie im Lobpreis heben und mich auf das konzentrieren, was Gott gegeben hat, und nicht auf das, was ich nicht habe. „Sei ohne Angst, du kleine Herde“, sagt Jesus, „denn euer Vater ist entschlossen, euch seine neue Welt zu schenken!” (Lukas 12:32) Als Empfänger der Großzügigkeit Gottes bittet Jesus uns, etwas unheimliches zu tun: „Verkauft euren Besitz und schenkt das Geld den Armen!“ (Lukas 12:33) Er bittet uns, uns selbst denen zu geben, die es brauchen. Die Fragen kommen sofort: „Jesus, das kann ich nicht. Jesus, du bist Gott, du verstehst das nicht.“ Aber Jesus versteht es. Er wuchs unter militärischer Unterdrückung auf, mit Schulden und Ausbeutung um ihn herum. Er lebte heimatlos, ging von Ort zu Ort ohne ein Zuhause, ohne eine sichere Arbeit zu haben. Er kannte Schmerz, Hunger und Verfolgung, stellte sich ihnen aber im Vertrauen an einen großzügigen Versorger.

Dieses radikale Geben, das Jesus von uns verlangt, kann nur mit der Zusicherung geschehen, die er verheißt: „Verschafft euch Geldbeutel, die kein Loch bekommen, und sammelt Reichtümer bei Gott, die euch nicht zwischen den Fingern zerrinnen und nicht von Dieben gestohlen und von Motten zerfressen werden.“ (Lukas 12:33). Mit der Gewissheit zu geben, dass wir von einem großzügigen Gott versorgt werden, ist eine Art, wie wir Gottes Reich erfahren und leben können.

Jeden Frühling feiern viele Singapurer das chinesische Neujahr. Während des chinesischen Neujahrsfestes geben ältere, verheiratete Menschen ihren Kindern, den Kindern anderer Familien und jüngeren, alleinstehenden Menschen rote Geldpakete. Man gibt ohne Angst, weil man weiß, dass einem auch geben wird, und dass man schon in der Vergangenheit beschenkt wurde. Wir haben diese Zusage in Gott, der seinen Kindern gute Gaben gibt. Er hat es schon einmal getan, und er wird es wieder tun, und mit dieser Zusicherung können wir ohne Angst in die Zukunft blicken.

Übersetzt von Naomi Bosch

Kategorien: Der Zukunft Begegnen
Tags: Konsumismus
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