Adventsehrfurcht
Haben Sie in letzter Zeit Ehrfurcht empfunden?
Wenn man sich im Freien aufhält und die Natur genießt, kann man leicht ein Gefühl der Ehrfurcht verspüren: dieses überwältigende Gefühl des Staunens, das manchmal auch mit Angst verbunden ist.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich beim Schnorcheln zum ersten Mal Ehrfurcht empfand. Als seltsam geformte Fische an mir vorbeizogen und ich auf einen Regenbogen von Korallen hinunterblickte, befand ich mich in einer fabelhaften Welt, von der ich absolut nichts wusste. Ich war wirklich völlig üerwältigt..
Wir zelteten in einem argentinischen Nationalpark, in dem mein Mann Rick und ich die einzigen Besucher waren (es war gerade Nebensaison), und wärmten uns jeden kühlen Morgen auf, während Andenkondore an schneebedeckten Bergen vorbeizogen. Es war herrlich, aber auch ein wenig beängstigend, weit weg von allen anderen Menschen zu sein. In einer riesigen, rauen Landschaft fühlte ich mich sehr klein und verletzlich.
Im Jahr 2002 half ich mit, einen Urlaub im Libanon für A Rocha-Unterstützer zu leiten. Unser örtlicher Führer nahm uns mit in die atemberaubende Jeita-Grotte, ein Netzwerk von Kalksteinhöhlen, die vor Millionen von Jahren entstanden sind. Plötzlich kam mir mein eigenes Leben unerträglich flüchtig vor, als ich die beleuchteten Stalagmiten, Stalaktiten, Säulen und Vorhänge betrachtete, die im Laufe der Jahrtausende Tropfen für Tropfen gewachsen waren.
Gefühle der Ehrfurcht können hier im Südwesten Schottlands viel näher an der Heimat auftreten. Sonnenaufgänge. Sonnenuntergänge. Schwärme von Nonnengänsen aus der isländischen Tundra, die im Frühherbst ankommen und mich mit ihrem wilden Geschrei nach draußen locken, um den Himmel nach langen Vs abzusuchen.
Manchmal lassen wir in unserem Garten nachts eine Lichtfalle laufen, um Nachtfalter zu fangen. Bevor ich sie nach der Identifizierung wieder freilasse, wähle ich einen aus, um ihn ein paar Minuten lang zu studieren und die Details zu betrachten: manchmal einen pelzigen Thorax, gefiederte Fühler, zarte Flügelmuster und dunkle, ausdruckslose Augen. Ich denke darüber nach, wie wenig ich – und andere – über das Verhalten, die Populationsentwicklung und die Bedürfnisse der kleinen Lebewesen vor unserer Haustür wissen.
Kürzlich hörte ich eine BBC-Radioserie mit dem Titel „More Wow“, die von der Wissenschaftsjournalistin Jo Marchant moderiert wurde. In fünf kurzen Sendungen untersuchte sie das schwer fassbare Gefühl der Ehrfurcht und interviewte Menschen, die in so unterschiedlichen Bereichen wie Weltraumforschung, Gymnastik, Höhlentauchen und Ingenieurwesen tätig waren und für die Ehrfurcht das Leben auf große und kleine Weise verändert hat. Ron Garan, der sechs Monate lang auf der Internationalen Raumstation gearbeitet hat, erzählte von seiner täglichen Erfahrung der Ehrfurcht, wenn er auf die Schönheit der Erde, Gaswolken, Polarlichter und Gewitter blickt. Nur wenige von uns kommen in den Genuss eines solchen Privilegs, aber er stellt fest, dass er jetzt, wo er auf der Erde ist, viel leichter in Ehrfurcht erstarrt als zuvor. Er ist davon überzeugt, dass es eine Sensibilität ist, die wir kultivieren können, um mit Ehrfurcht auf alltägliche Erfahrungen zu reagieren.
Die Befragten waren übereinstimmend der Überzeugung, dass großartige Erlebnisse uns aus unserer begrenzten Welt herausreißen. Sie lassen uns erkennen, dass wir Teil von etwas sind, das viel größer ist als wir selbst, und geben uns ein Gefühl der Verbundenheit: mit anderen Menschen und anderen Arten. Für einen Moment vergessen wir unsere kleinlichen Sorgen. Forschungen an der University of California, Berkeley, haben gezeigt, dass Erfahrungen der Ehrfurcht uns gütiger, großzügiger und respektvoller gegenüber anderen machen können. Dasselbe könnte man natürlich auch über den christlichen Gottesdienst sagen, wenn wir uns nicht auf uns selbst, sondern auf unseren Schöpfer und Erlöser konzentrieren.
Jetzt wo Weihnachten naht, werden viele von uns in allerlei Geschäftigkeit gefangen sein. Vielleicht ist jetzt, zu Beginn der Adventszeit, ein guter Zeitpunkt, um innezuhalten und über die Geschichte von Jesu Geburt nachzudenken. In den letzten zwei Wochen habe ich langsam die ersten beiden Kapitel des Lukasevangeliums gelesen und jedes Drama genossen: ein Priester in duftenden Gewändern, der sprachlos ist; ein junges Mädchen, dem ein einmaliges Privileg angeboten wird; ein Baby im Mutterleib, das einen Fremden erkennt; Viehzüchter, die plötzlich ihr Vieh aufgeben. Jedes dieser Ereignisse löste damals Ehrfurcht und Staunen aus. Wenn wir unsere von Gott gegebene Vorstellungskraft in die Geschichten einbringen und darüber nachdenken, was die Beteiligten sahen, hörten und fühlten, kann jedes dieser Ereignisse in uns Ehrfurcht und Anbetung hervorrufen, selbst wenn wir die Geschichten schon oft gehört, gelesen oder gelehrt haben.
An Weihnachten ist es allzu leicht, nur das Christkind in der Krippe zu betrachten. Wenn Sie von der Geburt Jesu lesen, von seiner Demut und Verletzlichkeit, warum nehmen Sie sich nicht auch die Zeit, über Kolosser 1,15-20 zu meditieren, wo von der Überlegenheit Jesu die Rede ist. Paulus sagt uns, dass alle Dinge – Engel und Segelflosser (angels and angel fish), Männer und Knabenkraut (men and man orchids), Seepocken und Weißwangengans (barnacles and barnacle geese) – von Jesus und für Jesus geschaffen wurden.
Mögen Sie sich an den Gewissheiten und den Geheimnissen dieser Jahreszeit erfreuen.
Barbara Mearns ist seit den Anfängen von A Rocha dabei und leitete viele Jahre lang das Büro von A Rocha International in ihrem Haus im Südwesten Schottlands. Jetzt ist sie im Ruhestand und schreibt in unregelmäßigen Abständen einen Blog über die örtliche Tierwelt unter www.mearnswildlife.wordpress.com und verbringt so viel Zeit wie möglich damit, Libellen, Schmetterlinge, Motten und Vögel zu beobachten. Mit ihrem Mann Richard hat sie das Leben vieler früher Naturforscher erforscht, zuletzt für die aktualisierten Biographien für Vogelbeobachter (2022), siehe www.mearnsbooks.com.